Im Licht, im Schatten: die Künstlerin Gerda Raichle
18.03.1954 Stuttgart - 31.01.2023 Teguise auf Lanzarote


Etwas über Gerda, Gerda Raichle, zu schreiben ist fast unmöglich. Als Mensch wie als Künstlerin war sie niemals einfach zu fassen und ich denke, das war es, was mir an ihr so sehr gefallen hat: sie war widersprüchlich. Über manches sprach sie nicht gern oder gab knappe, manchmal zu knappe Antworten. Small Talk langweilte sie. Es mußte um etwas gehen, einen Sinn haben und ein Ziel.

Wenn sie einmal eine Aufgabe übernommen hatte, so war sie auf beinah unheimliche Weise korrekt, bis der letzte Arbeitsgang abgeschlossen war. Ich erinnere mich an die Endkorrekturen für einen Band, den wir 2017 anhand und mit ihrem Gemälde konzipierten. Es war ein wahres Vergnügen, in ihrer Söflinger Wohnung, die zugleich auch ihr Atelier war, auf Entdeckungstour zu gehen: Ein lichtes, sonniges Westzimmer, Panoramafenster, Blumen auf dem Balkon und in der Wohnung. Überall auf den Fensterbrettern, Regalen und Ablageflächen fanden sich kleine Fundstücke von ihren Reisen in den Süden. Von ihrer Sehnsucht nach Licht, Sonne, Wärme und Fremdsein erzählte jedes dieser Stückchen. Wenn solche kleinen Fundstücke einen merkwürdigen, vielleicht auch unfreiwilligen Humor entfalteten, dann empfand Gerda doppelt Freude daran. Ich erinnere das geteilte Vergnügen an zwei Lavastücken, kaum größer als eine Hand breit, die an dicke weibliche Figuren erinnerten, vage erinnernd an die „Venus von Willendorf“. Gerda hatte die beiden so aufgestellt. daß es aussah, als tanzten sie miteinander.

Wir trafen uns auch über die gemeinsame Liebe zur Literatur. Als ich sie einmal bat, etwas ohne falsche Gnade testzulesen, mir also „ganz ehrlich“ zu sagen, was sie davon halte, reagierte sie beinahe entrüstet: Natürlich würde sie mir nur ganz ehrlich sagen, was sie davon hielte. Und sie hielt Wort, schonte mich nicht. Am Ende wurde der Text durch ihre (berechtigten!) Einwände, die auf Präzision und Empfindsamkeit fußten, wesentlich besser, zutreffender. Es tat dem Text gut, daß ich das, was sie als „überflüssiges Bla-Bla“ bezeichnet hatte, entfernte. Dieses „Bla-Bla“ kränkte mich zwar ein wenig, aber sie hatte Wort gehalten: sie war absolut ehrlich.

Wir gingen durch ihre Wohnung, die zugleich auch Galerie ihrer Arbeiten war, und immer wieder geriet ich ins Stocken: Ist das eine neue Arbeit, die kenne ich noch gar nicht, staunte ich.
Gerda erwiderte trocken: Ach was, die kennst du längst.
Ja, sie hatte recht. Aber ihre Bilder enthüllten bei jedem Betrachten einen anderen Aspekt, so daß sie trotz aller realistischen Detailfreudigkeit nie auserzählt, nie vollends durchdrungen werden konnten.
Das teilten die Kunstwerke mit ihrer Schöpferin. Es zählte immer das nächste Bild, das gemalt werden wollte in der ihr eigenen, zeitaufwändigen, förmlich pixelgenau ausgeführten Malerei. Jedes neue Bild eine Herausforderung, die sie sich auferlegte, auf die sie sich freute. Dessen Leuchten sie einsammelte auf den Reisen in den Süden, die sie mit geradezu kindlicher Vor-Freude monatelang vorbereitete.

Ihrer eigenen Arbeit stand sie manchmal erbarmungslos gegenüber. Ich erinnere mich an eine halb fertige Arbeit, wie immer ging es um einen Durchblick, ein Blick durch ein Fenster, doch der dahinter aufleuchtende Himmel war in Wirklichkeit ein Stück blau bemalter Wand. Ich war hingerissen von der Arbeit; selbst in unfertigem Zustand öffnete sich da ein magischer Raum.
Gerda hingegen fand die Arbeit nicht gut genug; sie sagte, sie habe überlegt, sie völlig zu überarbeiten und es dann doch aufgegeben – vorerst. Es war diese Härte, die sie gegenüber sich selbst wie auch gegen andere zeigte, die mitunter als Zurückweisung mißverstanden werden konnte. Es war eine hohe Disziplin, ein Beharrungsvermögen im besten Sinne, ein Festhalten, das sie auszeichnete. So hat sie sich auch in der Tibet-Initiative eingebracht. Verknappt ausgedrückt könnte man darin auch eine mit Leidenschaft ausgedrückte Verbundenheit erkennen zu jenen, die sich nicht auf die Sonnenseite des Daseins gesetzt sehen …

Wer sie besser kannte, wird ihren Humor geschätzt haben: ein trockener, zielgenauer Humor, durchaus mit einer Sympathie fürs Skurrile und Eigenwillige. Sie war eine geradezu unheimlich minutiöse Beobachterin. Dazu gehörte auch, daß sie sich niemals in den Vordergrund spielte. Zurückhaltung ja, Beharrlichkeit, keine Oberflächlichkeit, keine „Huschelei“, überhaupt war ihr alles Nachlässige und Achtlose zuwider.

Ihre Zuneigung zeigte sich oft unvermutet. Mal steckte sie mir ein Buch mit Novellen aus dem alten Florenz zu – sie mußte irgendwie mitbekommen haben, daß das alte Italien zu diesem Zeitpunkt ein mich stark beschäftigendes Thema war. Ein anderes Mal gab's eine aus dem Süden mitgebrachte Süßigkeit.
Man durfte nicht zu lange oder gar gerührt danke sagen. Es „passte“ schon.

Einmal redeten wir einen ganzen Nachmittag nur über Genüsse, woraus am Ende eine Reihe gemeinsamer Abendessen wurde, deren Gänge nicht aus gewöhnlichen Genüssen bestehen durften. Daß es am Ende aber auch ein gutschwäbisches Linsengericht gab, minderte den Spaß nicht.

Es sagt einiges über Gerda, daß sie mich, wann immer ich eine Rede zu einer ihrer Ausstellungen übernehmen sollte, eindringlich bat, nichts über sie zu sagen. Nur etwas sagen, das in ihren Bildern ist. Die Betrachter sollten Lust bekommen, selber in jene Länder, auf jene Inseln zu reisen, die ihr zum lebensnotwendigen Fluchtpunkt aus allem Alltag geworden waren: Lanzarote, Fuerteventura, Teneriffa, wo sie am 31. Januar 2023 ihr Leben abschloss.
Was man über Gerda Raichle wissen muss, findet sich in ihren Gemälden: Die Liebe zu Licht, zu Natur, zu Farben, die endlosen Vergnügen, die uns das Entdecken ermöglicht, das Fremdsein-dürfen, die stetigen Wandlungen des Ichs.

Ich hoffe, daß wir ihr noch lange Zeit wieder begegnen können in ihren Arbeiten, in diesen fulminanten Hymnen auf Licht und Farbe, in diesen fulminanten Hymnen auf Licht und Farbe, die als Nachlass in die Obhut des Museums Ulm gelangen – das, wie ich hoffe, ihr Werk zugänglich und damit lebendig erhält.

Nicht klage mehr um das, was du zurückgelassen hast,
Wir alle fehlen,
gestohlen dem Glück und der Zeit.

Aus: Gioco delle Ombre. Florian L. Arnold (Erzählungen) & Gerda Raichle (Gemälde), 2018, Axel Dielmann Verlag, 2018


Florian L. Arnold, 24. 2. 2023